Alle Bewertungen von Stefan H.
Geschrieben am: 01.06.2015
Warum man "Wildhoney" gehört haben darf.
Das Album ist schon mehr als zwanzig Jahre alt und hat nichts von seinem formalen Reiz, der durch den Mut, Grenzen auszuloten, zustandegekommen ist, eingebüsst. Ähnlich wie Paradise Lost vom Debut bis "Host" formal einen spannenden Weg gegangen sind, ohne ihre Unverwechselbarkeit einzubüssen, haben Tiamat mit ihrem Mastermind Edlund gewusst, dass der einfachere Weg, etwas Neues im Vergleich zum Vorgänger zu bieten, darin besteht, Härte zu reduzieren, mehr exotische Instrumentierung zuzulassen, Metall aufzuweichen und "erzkonservative" Strukturen zu verlassen. Kein Ausstellung von Technik, Speed oder sonstigen damals schon gewohnten Wiederholungen, sondern mehr Atmosphäre, Farben, Atmen. Mehr Raum, mehr Mut, mehr Verspieltheit und Variantenreichtum. Meinem Erachten nach damals Album des Monats. Eine Frischzellenkur. Man denke an (besonders damals) "Metal-Outsider" Faith no More oder Godflesh, auch wenn die eher "woanders" agieren.. es ging bei Tiamat u.a. um Pink Floyd-Zitate. Aber das ist gar nicht so wichtig. Die Keyboards des Produzenten Sorychta durften auch bei Lacuna Coil (auch ein unverzichtbarer Klassiker, das Selbstbetitelte) z.B. bunte Flächen, Teppiche und Gebilde, die sehr dynamisch agieren, aber eher in einer modifizierten Prog-Rock-Variante, immer mit Abstand zu Industrial-Gestampfe (man denke an Oomphs! "Unrein", z.B.) Also Metal für Metal-Hörer, die es gern farbig und mit Keyboards wollen, denen Slayer oder System of a Down einfach zu trocken sind und mal mehr "Kitsch" zur Abwechslung brauchen. Zum Träumen, zum Entspannen, zum Schwelgen, wenn es draussen regnet so wie auf dem "Wildhoney"-Album. Wenn man mal nicht "Scum" von Napalm Death hören will, um sich gegen die Gesellschaft auszukotzen. Das Cover ist von Kristian Wahlin (Dissection, Blind Guardian und viele mehr) und hebt sich so wie das Album musikalisch von den vielen dunkelblauen, eiskalten Albumcovers ab. Signalisiert sofort, hier klingts etwas anders. Hier wird, ähnlich wie besonders ab der zweiten 90er-Hälfte viel variiert und kombiniert zwischen Laut und Leise, verzerrt und akustisch. Hier wird viel kontrastiert. Gegrunzt, gesungen, gehaucht, beschwört. Auf "Wilhoney" wird eröffnet mit einem Intro, psychedelischem Vogelgezwitscher, verschiedenen Soundschichten, bis ein Metal-Riff langsam stampft wie auf "Gothic" von Paradise Lost (die viele Nachahmer gefunden haben und im Gegensatz zu Tiamat das Niveau halten konnten und sogar sehr populär wurden), bis dann aber gleich wieder Ruhe einkehrt. Die Spannung wird weiter aufgebaut, es wird geflüstert, über Drogenzustände gegrunzt im "Refrain", eine Kombination wie "My own summer" von den Deftones. Nur eben in einem anderen Sound"universum". Dann kommt eine schnellere Nummer mit Chören, die wiederum unterbrochen wird von einem ruhigen Teil, wo ein Keyboard atmet. Dann werden in einem Track die Gitarren komplett ausgesteckt und Keyboards dürfen helle, glühende Flächen schaffen. ("Gaia"). Zwischen Stücke mit Gesang schieben sich wie auf Prog-Rock-Alben oder wie bei Dredg oder Kate Bushs "Hounds of Love" Instrumentalpassagen. Keyboards schwelgen vor sich hin, wie bei Aphex Twins "Selected Ambient Works". Man denkt auch an Pink Floyds Comeback-Album in den frühen Neunzigern. Anathema, Moonspell, etc. Diese haben sich davon inspirieren lassen. Die verzerrten Gitarren und Metal-Passagen treten immer mehr in den Hintergrund. Man kommt fast an den Punkt, wo man gar keine harten Gitarren mehr hören will. Und der Moment tritt dann auch ein. Falls man ältere Geschwister hat, die Kraftwerk oder Can hören, wird man neugierig und möchte mal was anderes als Sodom hören. Es gibt zahlreiche Momente im Metal, die eine ähnliche Spannung erzeugen. Von den schon erwähnten Paradise-Lost-"Nachahmern" wie Theatre of Tragedy und ähnlichen Bands (in den 90ern vielleicht eine Art Hochrenaissance von "Gothic") findet man ähnliches auf "Orion" von Metallica bspw. Edlund hat einmal in einem Metal-Magazin die Rolle des Kritikers eingenommen und erklärt, er möge keinen Mitgröl-Metal, andererseits sei er sehr selbstkritisch und kein guter Musiker. Die Songs auf einer akustischen gitarre vorzuspielen, wäre weniger sinnvoll. Ähnlich wie die ambivalente Selbstreflexion des Hauptmusikers ist auch das Album. Kompositorische Schwächen gibt es zwar zu entdecken, aber die Formen, die auf dem Album erschaffen werden, sind spannend und "Wildoney" ist meinem Erachten nach das beste Tiamat-Album. Unerzichtbar als Metal-Dokument der Neunziger.