Das Album der Woche: The Ocean mit Phanerozoic I: Palaezoic

The Ocean - Banner

The Ocean geben uns wieder eine musikalische Lehrstunde im Bereich Geowissenschaft. Mit einer erschreckenden Perfektion haben die Berliner das Album der Woche bei EMP abgeben. Aber lest selbst, wie unfassbar gut dieses Werk ist. 

The Ocean sind nicht greifbar. Zu keinem Zeitpunkt gewesen und sie werden es wohl auch nie sein. Zumindest muss man sich dieser Tatsache bewusst werden, sofern man das Bandgefüge und die daraus resultierende Diskographie der Berliner Band anschaut. 2001 von Mastermind Robin Staps gegründet, veröffentlichte man über die Jahre hinweg diverse Alben, eine Split-EP mit der japanischen Post-Rock-Legende Mono und absolvierte umfangreiche Touren. Sei es das besetzte Haus im entlegensten Winkel Sibiriens, das ecuadorianische Kolonialtheater, aber eben auch der Tourbus, welchen man sich mit The Dillinger Escape Plan, Mastodon und Co schon teilte. Wohlgemerkt: Stets mit einer Zusammenstellung an Musikern, die The Ocean den Zusatz „Collective“ bescherten.

Nach 5 Jahren auf Achse widmet man sich einem Doppel-Album

Nach rund 5 Jahren unablässiger Tourerei, schlossen sich The Ocean in den Sigur Rós‘ Sundlaugin Studios ein, nachdem Staps erneut im Alleingang das Album abgeschottet in einem Haus am Meer geschrieben hat. Als Doppelalbum konzipiert, erscheint nun mit „Phanerozoic I: Palaezoic“ der erste Paukenschlag. Teil 2 soll 2020 folgen. Chronologisch verankert sich „Phanerozoic I: Palaezoic“ zwischen „Precambrian“ und den Überalben „Heliocentric / Anthropocentric“, schlägt eine musikalische Brücke und schließt eine Lücke, deren Existenz bis dato nicht schmerzte, im Nachhinein aber als störend empfunden wurde. Der Titel selbst bezieht sich auf das Erdzeitalter Phanerozoikum, welches rund 500 Millionen Jahre umfasst und bis heute andauert. In diesem Zeitalter sollte die Evolution ungeahnte Tier- und Pflanzenartenvielfalt hervorbringen, gleichzeitig aber auch durch fünf große Massensterben heimgesucht werden. Mit den nun vorliegenden 6 Songs arbeitet man sich nun anachronisitisch durch die einzelnen Zeitabschnitte, ohne dabei den Blick für das Übergeordnete zu verlieren. 

The Ocean - Band01

The Ocean erfinden sich immer wieder neu. Und dies nie mit dem selben Line-Up. (c) by Pelagic Records

In der Unendlichkeit von Raum und Zeit wiederholt sich alles immer wieder

Vorab sollte erwähnt werden, dass The Ocean trotz ihrer komplexen Musik einen Schwerpunkt auf die Texte legen. Sollen diese den Hörer zum Nachdenken anregen. So steht Nietzsche bei „Phanerozoic I: Palaezoic“ im Fokus, welcher das „Prinzip des ewigen Kreislaufs“ postulierte. Kreisläufe, die sich insbesondere in der Evolution aufzeigen. Kontinente drifteten auseinander, trieben übers Meer um erneut mit Kontinenten zu kollidieren. Das Leben wurde hierbei mehrmals fast vollständig ausgelöscht, um dann erneut aufzublühen und neue Arten hervor zu bringen. Aber auch der Brückenschlag zum Hier und Jetzt ist gegeben, wenn man sich vor Augen führt, dass am Ende der Epoche Perm rund 95% aller Lebewesen weichen mussten. Nicht aufgrund von Meteoren, die einschlugen, sondern aufgrund einer Klimaerwärmung von rund 5 Grad. Der Brückenschlag zu aktuellen Diskussionen liegt auf der Hand. Wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass wir bei rund 4 Grad Klimaerwärmung bereits zu Ende dieses Jahrhunderts stehen umso deutlicher. 

The Ocean - Cover

„Phanerozoic I: Palaezoic“ ist ein mächtiges Bollwerk, welches der erste Paukenschlag von The Ocean ist.

Musikalische Auswüchse wie eh und je

Doch lasst uns über die Musik sprechen, die „Phanerozoic I: Palaezoic“ bereit hält. Wabernd beginnt die geologische Erkundung. „The Cambrian Explosion“ hätte aus der Feder von Cult Of Luna zu ihrer „Vertikal“-Ära stammen können und bereitet den Hörer sanft auf das Bevorstehende vor. „Cambrian II: Eternal Recurrence“ bricht die gewonnene Sicherheit auf, wirft massive Gitarren-Wände in den Raum, welche sich im weiteren Verlauf zu Türmen aufbauen sollen. Bestialische Screams des Sängers Loic Rossetti setzen ein, welche im weiteren Verlauf zu schmeichelnden Vocals abklingen sollen. Jedoch ist dies ein Trugschluss, denn exakt in der Hälfte des Songs satteln The Ocean auf einen wahren Sludge-Ritt um, der mit Hardcore-lastigen Passagen gespickt ist. Das Wechselspiel zwischen „hart“ und „soft“ wird durch Piano-Einsatz und chorale Fragmente unterstrichen und durch Synthesizer-Spielereien geradezu perfektioniert. 

The Ocean - Paul Seidel

Stolz wie Bolle steht Drummer Paul Seidel mit der Testpressung des neuen Albums da. (c) by Pelagic Records

The Ocean arbeiten mit subtilerer Heaviness 

„Ordovicium: The Glaciation Of Gondwana“ offenbart die Tatsache, dass The Ocean jeden Ton penibel ausgearbeitet haben, was im Kontrast zu den bisherigen Alben steht. Bei diesen neigte Staps zu einer Überladung der Songs, wie er selbst zugibt. Diesen Umstand konnte man vermeiden, ohne der Musik Intensität zu nehmen. Der Spagat zwischen cleanen Vocals und eruptiven Ausbrüchen wirkt ausbalanciert. Die Stimme von Rossetti kontrollierter und doch in den richtigen Momenten ungestüm und von schierem Wahnsinn getrieben. „Silurian:  Age Of Sea Scorpions“ treibt den Drang nach den richtigen Tönen noch weiter voran. Die Nummer fährt mit Klavier, Streichern und einer Bläser-Fraktion auf. Dies gibt dem Song in den richtigen Momenten eine Wende, sind aber keinesfalls konträr zu den Sludge-Klängen der Band sind.

Für „Devonian: Nascent“ konnte man Jonas Renkse (Katatonia und Bloodbath) gewinnen, welcher Gast-Vocals beisteuert. Bedächtig, grazil und behutsam startet der längste Song des Albums. Doch nach rund 5 Minuten verschwindet die Behutsamkeit, eine dystopische Stimmung sich breit macht, welche durch elektronisch-wabernde Passage durchzogen wird, bevor man sich zu einem infernalen Ende schraubt. Keine Frage, der wohl wichtigste und eindrucksvollste Song des Albums. Wenn nicht sogar der bisherigen Schaffensphase von The Ocean. 

„The Carboniferous Rainforest Collapse“ stellt einen rein instrumentalen Track dar, der die Musiker und ihr Könne in den Fokus rückt. Insbesondere die Neuzugänge Paul Seidel an den Drums, Mattias Hägerstrand am Bass, sowie der bisherige Lichtmann Peter Voigtmann an dem Synthesizer. Mit „Permian: The Great Dying“ soll der erste Teil der „Phanerozoic“-Reihe beendet werden. Eine subtileren Heaviness thematisiert  die Ära, welche 95% des Lebens auf diesem Planeten vernichtet hat. Durch präzisester Kleinarbeit, schafft man einen epischen Rausschmeisser der Sonderklasse. Einer, der jetzt schon die Vorfreude auf den zweiten Teil von „Phanerozoic“ ins Unermessliche treibt. 

„Phanerozoic I: Palaezoic“ ist möglicherweise das Album des Jahres

The Ocean schaffen mit diesem Album das Unmögliche und wachsen über sich hinaus. Fast grenzenlos mit Kreativität bepackt, serviert man dem Hörer ein vereinnahmendes Hörerlebnis. Präzise auf den Punkt, musikalisch an Komplexität kaum zu übertreffen und mit akribischer Liebe zum Detail ist „Phanerozoic I: Palaezoic“ bis zum heutigen Tage wohl das Meisterstück der progressiven Metal-Band. Ein neu definierter Maßstab für Genre-Kollegen, die sich versuchen werden, jedoch wohl an diesem Album sich ihr Scheitern eingestehen müssen. Eine teutonische Ode an die Geologie der Erde und wohl für viele das Album des Jahres 2018!

Kategorien: musik Peter

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